Vor uns erhebt sich der Pamir. Weiter östlich geht es in Afghanistan jetzt nur noch durch den Wachan-Korridor, der sich an der Südseite dieses Gebirges entlang zieht. Wir sind im abgelegensten Teil Afghanistans, in der Provinz Badachschan. Den sprichwörtlichen Hindukusch haben wir bereits weitgehend links, pardon rechts liegen gelassen. Der große Fluss, der hier die Grenze zu Tadschikistan bildet, ist der Pandsch. Würden wir über ihn auf die andere Seite setzen – Brücken gibt es so gut wie keine – würden wir wahrscheinlich verhaftet, aber wir wären in Berg-Badachschan; die tadschikische Provinz, die das Pamir-Gebirge mit den ganzen kommunistischen 6000ern umfasst, heißt auch so. (Die Berge sind nicht kommunistisch, aber sie wurden zu Sowjetzeiten der Reihe nach nach den kommunistischen Großköpfen benannt: Pik Stalin, Pik Lenin, Pik Karl Marx, Pik Engels und so fort; die Engländer haben das früher ja auch gemacht, siehe Mount Everest.) Womit wir beim Thema sind.

Schon seit 1813 prallen hier am Fluss Pandsch, der ein paar hundert Kilometer weiter zum Amudarja wird, die westliche und die östliche Hemisphäre bzw. die europäische und die asiatische auf einander: die Briten in Indien, wo heute Pakistan ist, die Sowjets in Zentralasien, das damals Turkestan hieß, die Perser im Iran – und in der Mitte dazwischen, von all diesen „Freunden“ umworben und umringt, die Afghanen, die es erst hundert(sechs) Jahre später schafften, ihre Identität in einem eigenen „Pufferstaat auszubilden, der Afghanistan heißt. Die Engländer nannten das The Great Game.

Trotz aller strategischer Ambitionen war es 166 Jahre lang, bis zum Einmarsch der Sowjets Weihnachten 1979, für alle Seiten tabu, diese natürliche Flussgrenze von Pandsch und Amudarja zu überschreiten. Die Chinesen haben das in all der Zeit gelassen beobachtet und sich auf den Handel entlang der Seidenstraße konzentriert.

Wir bleiben hier, brechen nicht das Tabu. Während wir den Hang hinab zur Mündung des kleinen Flusses Schedudschdara in den Pandsch und dahinter auf die steil ansteigenden Berge Tadschikistans blicken, hören wir hinter uns das Lachen der Kinder. Wir sind in der Mario-Keller-Schule, einer Mädchenschule, die auf die Initiative deutscher Polizisten und mit Hilfe von Lachen Helfen hier in Schedudsch (engl. Schreibweise: Sheduj) gebaut wurde und heute, am 11. Oktober 2009, eingeweiht wird.

Mario Keller (1967–2007)

Mario Keller war einer der drei, die als erste deutsche Polizisten durch einen Sprengsatz in Kabul am 15. August 2007 ums Leben kamen. Die drei Polizisten waren nicht einmal im Rahmen der Mission EUPOL Afghanistan im Einsatz, sondern zum persönlichen Schutz des deutschen Botschafters als Sicherheitskräfte in der Botschaft im Dienst und in Kabul unterwegs gewesen (–> DW). Drei Monate zuvor, am 19. Mai 2007, waren bereits drei deutsche Soldaten durch ein Selbstmordattentat auf einem Markt in Kundus ums Leben gekommen (–> DW). Damit das nicht einfach nur sinnlose Taten sind, die in Vergessenheit geraten, setzte sich die hinterbliebene Familie Keller mit großem Engagement dafür ein, dass ein bleibendes Stück Zukunft in Afghanistan geschaffen würde, mit dem die Erinnerung an diese Opfer wach gehalten werden kann. Das war der Auslöser zum Bau dieser Schule in einem fernen Winkel Afghanistans – eines Landes, das in zwei Jahrhunderten noch nicht zur Ruhe gekommen ist.

Die Einweihungszeremonie begann gegen 11 Uhr. Eine ganze Reihe offizieller afghanischer und deutscher Vertreter aus Kabul und aus der Provinzhauptstadt Faizabad war zusammengekommen, natürlich auch deutsche Polizisten vom Wiederaufbau-Team der Provinz (PRT) und vom Deutschen Polizei-Projekt-Team (GPPT), die unmittelbar an der Durchführung des Hilfsprojektes beteiligt waren. Es begann mit der Rezitation aus dem Koran und der Eröffnungsrede des Bezirksleiters von Scheghnan (Sheghnan). Ein Lehrer und eine Schülerin führten gemeinsam durch das Programm. Es folgten Festreden der einzelnen prominenten Gäste, jeweils übergeleitet von Schülerinnen, die ein Lied sangen. Hervorzuheben ist, dass in den Reden immer wieder das herausragende Engagement der Familie von Mario Keller gewürdigt wurde.

Der Höhepunkt der Einweihungsfeier war schließlich die Enthüllung der Gedenktafel mit dem Namen „Mario-Keller-Schule“ und den Namen der drei getöteten deutschen Polizisten – Jörg Ringel, Mario Keller, Alexander Stoffels – am Schuleingang.

600 Schülerinnen strahlten vor Freude, dass sie ab jetzt nicht mehr in Zelten und verfallenen Häusern zur Schule gehen, sondern in diesem nagelneuen Schulgebäude mit acht großen, hellen Klassenzimmern. Es war sehr beeindruckend, mit wieviel Sorgfalt und Ehrgeiz die Gemeinde von Scheghnan diese Eröffnungsfeier zelebrierte und ihre große Dankbarkeit zum Ausdruck brachte.

Lesen Sie hierzu auch den Bericht in der Chronik „25 Jahre Lachen Helfen“ (Seite 78 f.)!